In dem Buch finden sich etliche alte Postkarten, die mein Urgroßvater Albert Tröller an seine Frau Elise geschickt hat. Die beiden haben sich offenbar sehr innig geliebt, wie man in seinen Zeilen erkennen kann.
21. Dezember 1820
Jean Pierre, der alte Earl of Huntington, schaute in die verschneite Landschaft, die sich um sein Schloss herum ausbreitete. Auf dem vereisten See glitzerte das Sonnenlicht; der Wald, der sich um den Park schmiegte, hüllte sich in ein duftiges Kleid aus Morgennebel und eine leichte Brise wirbelte Jean Pierres Atem davon. Am Waldrand standen Rehe, witterten vorsichtig, dann staksten sie durch den Schnee zu der Futterraufe, die der Wildhüter Paul Ferguson mit Heu gefüllt hatte.
»Guten Morgen, Mylord!«, rief dieser fröhlich. Paul Ferguson war ein Bursche von nicht einmal dreißig Jahren, groß, kräftig und mit einem bärtigen Lächeln, das sogar die Haushälterin Mrs. Crumble besänftigte, wenn er wieder heimlich Apfelkuchen aus der Vorratskammer stibitzt hatte. Mit seinen riesigen Stiefeln kam er durch den Schnee auf seinen Herrn zugestapft. Er trug nicht nur einen wollenen Mantel, sondern auch ein dunkles Schaffell um seine Schultern, was seiner ohnehin eindrucksvolle Erscheinung etwas Verwegenes gab.
»Ihnen auch einen guten Morgen, Mr. Ferguson«, erwiderte Jean Pierre ebenso fröhlich.
»Dann wollen wir mal, nicht wahr? Wie jedes Jahr.« Die beiden gingen schweigend zu den Stallungen, wo Paul bereits ein Pferd vor den Leiterwagen gespannt hatte, den er auch für die Waldarbeit nutzte. Wenn Jean Pierre sich in seinem abgetragenen Mantel auf den Kutschbock setzte, um im Wald den Yule-Stamm zu holen, glaubte Paul den Gerüchten, die besagten, dass der alte Earl in seiner Jugend eine ziemlich abenteuerliche Reise überstanden hatte. Eine Reise, auf der er nicht nur als einfacher Mann zu Fuß unterwegs gewesen war, sondern auch um sein Leben gefürchtet hatte. Paul durfte sich neben ihn setzen und gemeinsam fuhren sie hinaus in die gleißende Schneefläche, die unberührt vor ihnen lag. Der Weg zum Wald war nicht zu erkennen, aber Jean Pierre steuerte den Wagen zielstrebig auf die Futterkrippe zu, die am Eingang des Waldes stand. Die Rehe zögerten nicht, sondern zeigten den beiden ihre weißen Hinterteile und verschwanden im Dickicht.
»Heute Vormittag ist es noch ruhig«, stellte Paul fest. »Bei mir zumindest. Meine Schwester kommt erst heut Nachmittag, dann wird’s lebhaft in meiner sonst so stillen Hütte.«
Jean Pierre lachte leise in sich hinein. »Sie glauben gar nicht, wie unruhig es bei uns schon seit Tagen ist. Es werden Vorbereitungen getroffen, als komme die Königsfamilie mit ihrer gesamten Entourage zu Besuch.«
»Wie jedes Jahr«, antwortete Paul mit einem Grinsen und schnalzte beruhigend mit der Zunge, denn dem Pferd war der Schnee nicht geheuer. Geschickt lenkte Jean Pierre das Pferd durch die Verwehungen.
Der Wald empfing sie wie ein Märchen; der Wind trieb die letzten Nebelschwaden vor sich her wie Feenkleider, die sich zwischen den weißen Ästen verfingen. Sonnenlicht ließ die weißen Wipfel aufleuchten. Ein Eichelhäher flog mit durchdringenden Rufen von einem Ast auf und hinterließ einen Schleier aus Elfenstaub.
Auf einer Lichtung hielt Jean Pierre den Schlitten an. Nichts war mehr zu hören; kein Hufgetrappel, keine Räder, die durch den Schnee knirschten.
›Ein vollkommener Augenblick‹, dachte er bei sich. Er schaute Paul an, auf dessen Gesicht derselbe Gedanke lag. Für einen weiteren tiefen Atemzug genossen sie gemeinsam die Stille, dann zwinkerte er Paul zu und sie sprangen vom Wagen.
Schweigend gingen sie zu dem großen Holzstoß, auf dem Paul schon den Yule-Stamm zurechtgelegt hatte. Mit Leichtigkeit schulterte er den mächtigen Holzklotz und wuchtete ihn auf die Ladefläche.
Als sie beide wieder Platz genommen und Jean Pierre die Zügel in der Hand hatte, wandte er sich mit einem Zwinkern zu Paul um: »Und Paul - wie jedes Jahr!«
»Natürlich, Mylord! Wie jedes Jahr. Ist doch Ehrensache. - Wenn sie wollen, kann ich sogar erzählen, dass Sie den Stamm ganz alleine auf den Wagen geworfen haben - aus zwanzig Fuß Entfernung.«
Jean Pierre feixte. Er liebte dieses Spiel und ließ es sich nicht nehmen, ordentlich damit anzugeben, dass er noch immer den Yule-Stamm heben könne. Allerdings gehörte zu diesem Spiel auch, dass alle so taten, als würden sie ihm glauben, denn natürlich war es Paul alleine, der den mächtigen Holzklotz zum Kamin in der Bibliothek brachte, ihn dort ablegte und alles so vorbereitete, dass das Feuer nur noch angezündet werden musste.
Nach getaner Arbeit schlenderte Paul über den Stallhof zum Garten, wo er von weitem Lynette, das neue Küchenmädchen sah. Mit einem Lächeln bemerkte er, dass sie den Vögeln Futter hinstreute und Gemüseabfälle über den Gartenzaun warf, damit die Feldhasen sich gütlich tun konnten. An Tiere hatte in der Küche bisher niemand gedacht, außer in totem, rohen Zustand.
»Guten Morgen, Miss Lynette!«, rief er und nahm seinen Hut ab.
»Guten Morgen, Mr. Ferguson!«, erwiderte sie und wollte gerade den Korb mit dem frisch geernteten Wintergemüse hochnehmen. Doch Paul war schneller; mit ein paar eiligen Schritten war er bei ihr und nahm ihr den Korb ab.
»Vielen Dank, Mr. Ferguson!« Dann verfiel sie in Schweigen und schaute angestrengt auf den Gartenweg vor ihren Füßen.
»Was gibt es denn heute Gutes? Lauch, Kohl und Steckrüben. Mag ich alles gerne. Werden Sie das Essen kochen?«
»Ich werde Lady Jane gleich helfen, die Girlanden für die Eingangstür und die Kamine zu wickeln.«
»Donnerwetter! Da hat sicher Mrs. Crumble ein gutes Wort für Sie eingelegt und Sie der Lady empfohlen, nicht wahr?« Er schaute ganz anerkennend auf sie hinab. Ihre Wangen waren wohl nicht nur von der Kälte gerötet. Paul mochte ihre Sommersprossen, ihr helles Haar und die blauen Augen, die immer ein wenig melancholisch in die Welt schauten.
»Ich glaube schon. Als ich noch nicht lange hier war, habe ich kleine Sträuße für unseren Tisch gewickelt. Erinnern Sie sich?«
»Ja, natürlich, diese hübschen Sträuße waren von Ihnen?«
Lynette nickte lächelnd. Sie hätte nicht erwartet, dass so kleine Dinge einem Mann überhaupt auffallen würden. Wieder trat Stille zwischen sie, in der man nur das Knirschen des Schnees unter ihren Füßen, den Gesang der Vögel hörte. Nach einer Weile sagte Paul: »Wir werden uns die Feiertage schön machen, nicht wahr? Wir werden vielleicht nicht ganz so fein essen wie die Herrschaften, aber schmecken wird es uns sicher auch. Und tanzen werden wir. Sie tanzen doch, Miss Lynette?«
Sie blieb stehen und schaute zu ihm auf mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen, Schrecken und Freude. »Ich weiß nicht, Mr. Ferguson. Auf dem Bauernhof meiner Eltern hatte ich bisher keine Gelegenheit, es zu lernen.«
»Dann bring ich es Ihnen bei. Wie wäre das?«
»Das wäre sehr nett von Ihnen, Mr. Ferguson.«
»Paul, mein Name ist Paul. Also, dann werden wir heute tanzen. Ich freu mich drauf.«
Mit diesen Worten waren sie an der Küchentür angelangt. Als Paul die Tür öffnete, kam ihnen der geschäftige Lärm entgegen. Die Küchenmädchen kneteten Teig in großen Backschüsseln, schnippelten Äpfel, während Mr. und Mrs. Crumble den Braten mit Speckstreifen und Rosmarinzweigen spickten. »Da kommt ja endlich das Gemüse, Paul! Hast du das in der neuen Welt geholt oder warum hat das so lange gedauert?« Mrs. Crumbles Haube saß schon jetzt auf Sturm. Wie sollte das erst noch werden, wenn die Gäste alle da waren?
»Nein, Mrs. Crumble, wir waren nur bis Ipswich«, erwiderte Paul. Heute konnte sein Lächeln die alte Frau nicht milde stimmen; sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und schickte Lynette hinüber in den Wirtschaftsraum. »Das Grünzeug für die Girlanden ist schon fertig. Du wirst mit den Kammermädchen Lady Jane helfen, die Girlanden zu winden.«
Paul zwinkerte Lynette zu. Lady Jane helfen zu dürfen, war wirklich eine Auszeichnung, und Lynette machte sich mit roten Wangen auf den Weg. Daisy schickte sich an, ihr hinterherzulaufen, wurde aber von Mrs. Crumble zurückgepfiffen. Sie sollte Gemüse putzen, während sich die Neue mit Lady Jane vergnügen durfte! Sie schaute Lynette neidisch nach.
***
»Und? Was meinst du, Jean Pierre? Wird Mr. Wakefield die Einladung annehmen?«, fragte Jane, während der Butler Hudson ihr Tee einschenkte.
Jean Pierre rührte nachdenklich in seiner Tasse und schaute hinüber nach Lowland Park. »Ich weiß es nicht, ich kann es nur hoffen - für ihn vor allem. Er ist ein so freundlicher junger Mann, aber offensichtlich bedrückt ihn etwas.«
»Es heißt, er habe eine sehr unglückliche Liebschaft gehabt.« Jane sprach im Flüsterton, obwohl Hudson den Raum wieder verlassen hatte. »Er mag vielleicht knapp vierzig Jahre alt sein. Ich würde mich so sehr freuen, wenn er eine neue Liebe fände, die ihn von seinem alten Kummer losreißt.«
Jane biss in ihren Pfundkuchen, den sie dick mit Pflaumenmus bestrichen hatte, und blickte kauend ebenfalls hinüber nach Lowland Park, wo Mr. Wakefield vermutlich ebenfalls beim Frühstück saß.
»Du siehst so nachdenklich aus. Ich wette, du gehst in Gedanken die Gästeliste durch, ob wir jemanden für ihn haben«, vermutete Jean Pierre, worauf Jane ihren ergrauten Kopf schüttelte. »Das hab ich schon vor Tagen getan. Weil ich aber zu keinem Ergebnis kam, bin ich im Geiste die halbe Stadt durchgegangen, doch auch da fiel mir niemand ein.«
»Bist du sicher, dass er das möchte? Wir sollten ihn nicht bedrängen, denn wenn er unsere Absichten erkennt, wird er nie wieder einen Fuß über unsere Schwelle setzen. Wer weiß, wie tief sein Schmerz ist! Und wir könnten - ohne es zu wissen - alte Wunden aufreißen. Wir sollten froh sein, wenn ein so junger Mann überhaupt mit uns alten Leuten feiern will und ihn in Frieden lassen.«
»Du hast recht, mein Liebster. Er wird sich wohl fühlen bei uns, da bin ich mir ganz sicher. Wir haben junge Leute eingeladen. Unsere Kinder kommen...«
»... von denen einige schon älter sind als er«, ergänzte Jean Pierre.
»Aber wir haben auch Enkelkinder. Außerdem kommen die Worselys, die Kents und die Merrytons. Die Worselys sind sogar ein wenig jünger als er. Er wird also viele interessante Gesprächspartner treffen und sicher auch tanzen. Mmh, das Pflaumenmus ist dieses Jahr ganz besonders köstlich. - Sag mal, wie spät ist es eigentlich?«
Jean Pierre zückte seine Taschenuhr: »Es ist viertel vor elf.« Bei diesen Worten kam Leben in die alte Dame. »Du liebe Güte! Die Mädchen haben sicher schon angefangen und ich sitze noch beim Frühstück!« Sie war aufgesprungen, drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange und bemerkte nicht, dass sie dort einen Tupfer Pflaumenmus hinterließ. Jean Pierre blickte ihr mit einem liebevollen Lächeln nach und wischte sich mit der Serviette das Mus aus dem weißen Bart.
Gegen Abend waren sämtliche Kamine des Schlosses und die Eingangstür mit Girlanden aus Tannen, Stechpalmenzweigen, Buchs und Efeu geschmückt. Rote Bänder umschlangen die Kunstwerke, an denen Jane mit Lynette und Anny den ganzen Tag gearbeitet hatte. Zufrieden standen sie gemeinsam vor dem großen Eingangsportal und beglückwünschten sich zu dem gelungenen Weihnachtsschmuck. Die Nacht hüllte das Land in ihren Frieden. Die meisten Fenster waren dunkel, nur hier und dort brannte eine einzelne Lampe und kündete von dem ruhigen Leben in diesem Haus, während sich über dem Schloss und den glücklichen Frauen der Sternenhimmel wölbte wie eine schützende Kuppel.
»Prächtig, wie jedes Jahr!«, rief Jane und klatschte in die Hände.
»Ja, wie jedes Jahr!«, antworteten die Mädchen lächelnd.
»Und jetzt gibt es Punsch und Kuchen in der Küche für alle!«, verkündete Jane. Das ließen sich die Mädchen nicht zweimal sagen.
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Fotos: Frank Glabian, Hans-Dieter Haas, Markus Lappe und Anja Zimmer
Aktualisiert am 19.12.2024