"Bitte bleib, Ruid!"
"Nein, Grainne*, ich kann nicht bleiben. Das weißt du."
"Aber du bist unser Druide. Wir brauchen dich. Bald ist Bealtaine", rief Grainne. Doch der Druide löschte sein Herdfeuer. Er sah die junge Frau an, die mit Tränen in den Augen neben ihm kniete.
"Die Kräuter für Bealtaine habe ich schon gesammelt. Sieh, hier sind Efeu, Klee und die Rinde der Eberesche. Die Wurzeln von Knabenkraut und Mädesüß sind in diesem Gefäß - aber das weißt du ja. Du hast mich oft gesehen, wie ich die Rituale vollzogen habe. In diesem Jahr ist es nun an dir, die heiligen Bräuche weiterzuführen. Es hätte mich mit Stolz erfüllt, dich dabei zu sehen, doch sollte ich schon weit weg sein, wenn der neue Priester kommt. Auch ihr alle müßt vorsichtig sein. Vielleicht ist es das letzte Bealtaine-Fest, das ihr feiern könnt. Paß auf, daß der neue Priester nicht rechtzeitig zum Fest ankommt! Aber - Ruid lächelte - mit etwas Glück könntet ihr ihm den verkohlten Teil des Bannocks zuspielen." Bei dieser Vorstellung hatte auch Grainne unwillkürlich ein Lächeln auf den Lippen, doch hielt es sich nicht lange auf ihrem Gesicht. Die Vorstellung, ihren Druiden zu verlieren, vielleicht für immer, machte ihr das Herz zu schwer. Sie war seine Schülerin. Er hatte sie alles gelehrt, was er selbst wußte. Nicht nur die Geheimnisse des Säens und Erntens kannte sie, auch den Lauf der Gestirne und seine Bedeutung. Auch die Medizin hatte einen großen Teil ihrer Lehrzeit in Anspruch genommen. Und schließlich hatte er sie eingeweiht in die Philosophie - der Kelten und der Christen. Er selbst war Christ, wie seine Schülerin und alle Stammesmitglieder. Doch glaubte er auch an die Dinge, die den irdischen Augen der Menschen verborgen sind. Allein die Tatsache, daß er in der großen Druidenschule von Emain Macha gelernt hatte, machte ihn suspekt in den Augen des hochköniglichen Beraters. Grainne beobachtete traurig, wie Ruid seine wenige persönliche Habe einpackte: Schreibzeug, ein Buch, astronomische Geräte und einen Kalender. Zum Schluß packte er die Lunula in seinen Beutel, eine hauchdünn gehämmerte Platte aus purem Gold, in Form einer Sichel. Sie war sorgsam verwahrt zwischen zwei dünnen Brettchen aus Eichenholz. Er schob diesen Schatz tief in sein Bündel.
Es war schon lange her, daß dieses Zeichen den wandernden Druiden in beinahe der gesamten bekannten Welt Schutz geboten hatte. Offen hatten sie es auf der Brust getragen. Kein Räuber hätte gewagt, einen Druiden anzugreifen. Doch nun mußte Ruid es verbergen, weil genau dieses Zeichen ihn in Gefahr brachte. Einst nannte man die Kelten das verborgene Volk, weil sie ihr Wissen vor anderen Völkern verbargen. Nun mußten sie sich selbst verbergen.
Wie sehr hatte sich die Welt verändert! War dies noch seine Welt? Die mac Murroughs waren ein kleiner Stamm. Normalerweise hatte jeder Druide sein eigenes Aufgabengebiet, aber hier war Ruid alles in einem: Sterndeuter, Rechtsprecher, Heiler und Priester. Da nun ein Mann kommen sollte, der sich nur auf die Religion verstand - und dies wohl auch nur in Ansätzen - mußte der Stamm in allen anderen Fragen auf Grainne bauen.
"Wenn ich bleibe, bringe ich euch alle in Gefahr. Abt Matthew hat mir befohlen, den Stamm zu verlassen. Es nützt nichts. Wenn ich hier bleibe, setze ich nicht nur mein eigenes Leben aufs Spiel. Matthew ist grausam. Du warst doch dabei. Was für ein schwarzer Tag! Ich habe es nur Étaíns energischem Eingreifen zu verdanken, daß ich noch lebe."
"Matthew verstößt gegen alle Gesetze. Er ist nicht einmal von einer Versammlung rechtmäßig gewählt worden. Aber er ist der Hochkönig, nicht Dealgan - und dessen Wahl war zweifelhaft genug. Es muß doch möglich sein, diesen Teufel irgendwie loszuwerden", ereiferte sich Grainne.
"Nicht so lange er eine riesige Armee hinter sich hat, die er sich aus Rom bezahlen läßt. Diese Armee steht hinter Matthew, nicht hinter dem Hochkönig. Dealgan ist nur eine Puppe, die Matthew tanzen läßt. Matthew ist der weitaus Mächtigere der beiden. Ich bin sicher, daß der Abt auch vor einem Mord nicht zurückschrecken würde, wenn Dealgan sich einmal nicht mehr sklavisch seinem Willen beugt. Warum sonst hätte uns der Hochkönig auf diesem Wege unterstützt? Heimlich mußte er zu den anderen Stämmen Boten schicken, damit sie uns retten konnten. Für mich klang es fast wie ein Hilferuf des Hochkönigs, aber immerhin ist es ein Lichtblick, daß er solches tut. Wahrscheinlich hat er seinen Kopf riskiert. Arme Eire! Dealgan ist ein Kelte. Als solcher wurde er erzogen. Ich frage mich, wann er sich endlich daran erinnert, was es heißt, ein Kelte zu sein. Vielleicht ist es gut, daß du noch nicht das Zeichen der Druiden trägst. Eines Tages wirst du mitkommen nach Uladh, um es dort zu erhalten!"
Das Zeichen der Druiden. Grainne dachte mit Ehrfurcht daran, daß sie es vielleicht eines fernen Tages tragen sollte. Nur einmal hatte sie es bei Ruid gesehen. Es war eine Tätowierung auf seinem Schulterblatt. Ein Dreieck, gebildet aus ineinander geschlungenen Mäandern. Mit Stolz würde sie es tragen. Das Zeichen der Druiden - aber sie war auch getauft. "Was sind wir eigentlich? Sind wir Kelten? Oder sind wir Christen?"
"Wir sind christliche Kelten, Grainne. Wir verleugnen unsere Wurzeln nicht. Christus ist zu uns gekommen und wir haben ihn aufgenommen. Er ist unser Bruder, ein Druide wie du und ich. Wie ein Druide hat er Wunder gewirkt, Kranke geheilt und dem Sturm befohlen. Wie ein keltischer Held starb er für sein leidenschaftliches Leben und überwand sogar den Tod. Er kehrte aus der Anderswelt zurück wie Cuchulainn*. Er ist uns so nahe wie jeder unserer Helden. Nur als ich in Matthews Augen geschaut habe, da war er fern. Dort habe ich ihn nicht gefunden. In Matthews Augen sah ich nur Gier nach Macht und Reichtum." Ruid starrte gedankenverloren auf die dunkle Feuerstelle. Der Tag, an dem Matthew ihr friedliches Dorf überfallen hatte, stand ihm wieder deutlich vor Augen. Einen falschen Christen hatte Matthew ihn genannt. Ruid atmete schwer auf. "Sie werden euch einen richtigen Christen schicken. Einen, der im Kloster erzogen wurde."
"Ein richtiger Christ! Was wird das für einer sein? Wenn Matthew ihn ausgesucht hat!" In Grainnes Stimme mischten sich Wut und Abneigung gegen den Mann aus dem Kloster, den sie noch nicht kannte. "Du bist nun die Druidin des Stammes, Grainne. Das weißt du und alle anderen wissen es auch, selbst wenn du deine Weihe noch nicht erhalten hast. Eines Tages, wenn die Zeiten wieder ruhiger werden, dann wirst du auch deine feierliche Weihe erhalten. Dieser Tag wird kommen. Das verspreche ich dir. Sei vorsichtig mit dem Bruder. Verbirg dein Wissen und laß ihn nicht sehen, welche Kraft in dir ist, damit du dich nicht in Gefahr bringst. Du warst mir eine gute Schülerin. Du wirst nun deinem Stamm eine gute Druidin sein."
"Aber wie soll ich das vereinbaren - ich meine, mein Wissen verbergen und eine gute Druidin sein?" "Matthew wird in seiner Verblendung sicher nicht wissen, daß es uns eine Ehre ist, auch Frauen in diesen Stand zu erheben. Entweder ist der Bruder ebenso begrenzt wie Matthew, dann wird er es nicht sehen oder er ist klug und weiß eine kluge Frau zu schätzen. Aber sei vorsichtig - vor allem wenn dieser Mann nur mit seinem Kopf klug ist, aber nicht mit seinem Herzen."
"Wohin wirst du gehen? Wo können wir dich finden?"
"Ich werde an einen Ort gehen, an dem ich sicher bin. In Uladh regieren noch immer Männer und Frauen von Verstand. Bisher hat Matthew sich nicht in den Norden gewagt. Er war zu beschäftigt mit seinen eigenen Angelegenheiten. Um Teamhair na Riogh werde ich einen großen Bogen machen und erst ein Stück nach Westen wandern. Ich denke, in spätestens sieben Nächten bin ich in Uladh, wo ich Gleichgesinnte treffen werde. Wenn es dir hier zu gefährlich wird, flieh in die Wälder. Nimm dir Leute mit, die dich beschützen und dir helfen. Gott segne dich!"
Er schnürte sein Bündel fest zusammen und hängte es sich an einem breiten Gurt über die Schulter. Dann ließ er noch einmal seinen Blick schweifen - über das vom Rauch geschwärzte Dach, die niedrigen Wände, die wenigen Schemel, den gemauerten Tisch. Wie oft hatte er ruhig und zufrieden auf diesem Lager geschlafen. Wie oft hatte er an dieser Feuerstelle mit Freunden, allein oder mit Grainne, gesessen, getrunken und geredet bis spät in die Nacht. Es war vorbei. Die Asche rauchte nur noch. Er schob mit dem Fuß kalte Asche in die Mitte, dann ging er hinaus, wo der Stamm versammelt war.
"Wir bitten dich, Ruid, bleib bei uns", sagte Cumhill, der keinen Kampf scheute. "Matthew kann dich nicht einfach wegschicken. Das ist eine Sache, die in der Versammlung besprochen werden muß." "Wenn du darauf bestehst, werdet ihr euch bald alle in der Anderswelt versammeln können", antwortete Ruid. "Ihr habt Grainne. Matthew weiß nichts von ihr. Schützt sie vor ihm! Wenn die Zeiten wieder besser werden, komme ich zurück."
"Wir wissen, daß dies die einzige Möglichkeit ist, Ruid", sagte Étaín, die Stammesfürstin. "Wir können nur abwarten und hoffen, daß der Hochkönig wieder Kontakt zu uns aufnimmt. Vielleicht findest du einen Weg, dich ihm zu nähern. Noch ist nicht alle Hoffnung für Eire verloren.
Wir werden auch Grainne beschützen. Mach dir um sie keine Sorgen! Aber auch wenn du Hilfe brauchst, laß es uns wissen!"
"Ich werde meinem Namen als Kelte nun alle Ehre machen und mich verbergen", sagte er, indem er sich aus Étaíns Umarmung löste. Er verließ das Dorf. Alle standen und schauten ihm nach, wie er über die Wiesen davonwanderte und schließlich im Wald verschwand. Was würde über diese Wiesen nun zu ihnen kommen?
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Aktualisiert am 19.12.2024